Das Ziel des vorliegenden Prozesshandbuches ist es, Schweizer Unternehmen bei der Kontrolle von internationalen Beschaffungsrisiken wirksam zu unterstützen. Das Handbuch soll den Unternehmen einen systematischen, proaktiven Risikomanagement Prozess aufzeigen. Die Erfassung und Bewertung der Risiken soll auf der Ebene der beschafften Einkaufsteile stattfinden. Es sollen konkrete Massnahmen zur Beschränkung der Risikopotentiale aufgezeigt und pragmatische verwendbare Hilfsmittel zur Implementierung des Prozesses zur Verfügung gestellt werden. Im Einzelnen verfolgt das Handbuch die folgenden Zielsetzungen zur Reduktion der Risikoexposition bei der internationalen Beschaffung:
Die Umsetzung eines Beschaffungsrisiko Managements gemäss dem Prozesshandbuch soll Unternehmen entsprechend den Anforderungen der ISO Norm 31000 dazu befähigen, die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung zu steigern, eine proaktive Führung zu fördern und die Notwendigkeit der Risikoidentifikation und die Risikobewältigung in der gesamten Organisation bewusst zu machen.
Sie soll das Erkennen von Chancen und Bedrohungen verbessern, die Einhaltung von relevanten gesetzlichen und regulatorischen Anforderungen sowie internationalen Normen erleichtern, das vorgeschriebene und das freiwillige Reporting verbessern, die Führung der Organisation (Governance) unterstützen, das Vertrauen der interessierten Kreise erhöhen und eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidungsfindung und Planung anbieten.
Die Beschaffung von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen, Bauteilen, fertigen Gütern und Dienstleistungen aus ausländischen Märkten hat nicht zuletzt wegen dem starken Kurs des Frankens eine grosse Bedeutung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Schweizer Unternehmen erlangt. Die internationale Beschaffung bietet den Unternehmen die Möglichkeit, ihre Herstellungskosten zu senken. Sie lässt aber auch Risiken in Form von Wechselkursschwankungen, Qualitätsverlusten, Transportschäden, Lieferverzögerungen und Know-how Verlusten entstehen.
Eine Befragung in der Schweizer Wirtschaft zeigt, dass viele Unternehmen ungenügend gerüstet sind, um solche Risiken bewältigen zu können. Ihr Risikomanagement ist zu wenig systematisch institutionalisiert, um die potentiellen Risiken auf ein tragbares Mass zu reduzieren. Die internationale Beschaffung kann deshalb zu grossen Schäden führen.
Das vorliegende Handbuch beschreibt einen Prozess zum Management von internationalen Beschaffungsrisiken vor. Es stellt dazu nötigen Arbeitsmittel zur Verfügung und zeigt, wer in die Prozessentwicklung und -implementierung involviert werden soll. Das Handbuch bietet damit eine wichtige Unterstützung für Unternehmen im Hinblick auf die Optimierung des Risikomanagements im Bereich der internationalen Beschaffung.
Das Prozesshandbuch ist ein Resultat des Innosuisse-Projektes «Internationales Beschaffungsrisiko Management». Dieses Projekt untersuchte, mit welchen Risiken Schweizer Unternehmen bei der internationalen Beschaffung konfrontiert sind, wie sie mit internationalen Beschaffungsrisiken umgehen und welche Optimierungen zur Kontrolle von Beschaffungsrisiken möglich sind. Beteiligt an diesem Projekt waren der Fachverband procure.ch, die Fachhochschule Graubünden und die Berner Fachhochschule, der Produktionsdienstleister und Global Sourcing Experte Global Sourcing Services AG, die auf Non-Linear Performance Pricing spezialisierte Saphirion AG sowie die Industrieunternehmen Dopag Dosiertechnik und Pneumatik AG, Hamilton Medical AG, Mathys GmbH Bettlach, Ruag Corporate Services AG, Telsonic AG und die Veratron AG.
Im April 2019 wurden 315 Mitgliedunternehmen des Schweizer Fachverbandes procure.ch zum Thema Internationales Beschaffungsrisiko Management befragt. Die Unternehmen waren schwergewichtig in den Sektoren Metall- und Maschinenbau, Elektronik, Handel, Chemie und Pharma tätig. 38% der Unternehmen konnten als mittelgross (50 – 250 Mitarbeitende), 53% als gross (über 250 Mitarbeitende) eingestuft werden. Der grösste Anteil der befragten Firmen (30%) wiesen einen Anteil von 60 – 80% der Beschaffung auf ausländischen Märkten aus. 63% der Unternehmen bezogen Vorleistungen von bis zu 100 ausländischen Lieferanten. Der Fragebogen war teilstrukturiert aufgebaut und wurde elektronisch versendet. Die anonymisierten Daten wurden statistisch nach Häufigkeiten und signifikanten Unterschieden zwischen Unternehmenskategorien ausgewertet. Die Ergebnisse wurden anschliessend in einem Panelworkshop mit teilnehmenden Unternehmen validiert. Das folgende Kapitel zeigt die Erkenntnisse aus der Befragung (Lehmann, Ammann, Wilhelm 2019).
In der Befragung wurden die Unternehmen gebeten, die Risiken, mit denen sie bei der internationalen Beschaffung konfrontiert sind, anzugeben und diese Risiken nach ihrem Schadenpotential und der Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten. Das Ergebnis dieser Einschätzungen zeigt die Abbildung 1.
Abbildung 1: Risiken nach potenziellem Schadensausmass und Eintrittswahrscheinlichkeit
Die vorhandenen Beschaffungsrisiken können eingeteilt werden in Risiken mit grosser, mittlerer und kleiner Bedeutung. Zu den grossen Risikopotentialen (rot) gehören ausländische Lieferanten, die ihre Preise erhöhen, qualitativ mangelhafte Leistungen verkaufen, in finanzielle Schwierigkeiten geraten und Lieferrückstände aufweisen. Wirtschaftliche Risiken umfassen Konjunktur- und Wechselkursschwankungen in ausländischen Beschaffungsmärkten. Politische Risiken stellen Embargos von ausländischen Beschaffungsmärkten, Schutzzölle, Streiks, Krieg und Terrorismus dar. Zu den logistischen Risiken zählen Transportschäden, Warenverluste sowie Verzögerungen bei der Zollabwicklung. Eine mittlere Bedeutung (gelb) weisen gemäss den befragten Unternehmen Rechts-unsicherheiten in Importländern, Dispositionsfehler im Einkauf, eine mangelhafte Beschaffungsstrategie und Mängel in der Kommunikation mit ausländischen Lieferanten auf. Zu den unwahrscheinlichen Beschaffungsrisiken mit geringem Schadenpotential (grün) zählen Betrug, Korruption, unethisches Verhalten und kulturelle Konflikte in der Zulieferkette.
Unklar ist, inwieweit psychologische Verzerrungen die Einschätzung der Risikopotentiale in der Befragung beeinflussten. Menschen neigen dazu, Risiken, die sie selber beeinflussen können und Risiken, die aus vertrauten Umfeldern entstehen zu unterschätzen (Gleissner 2011). Entsprechend wäre es möglich, dass unternehmensinterne Risiken wie Fehldispositionen zu tief und Risiken in fremden, geografisch und kulturell weit entfernten Märkten zu hoch eingeschätzt wurden.
Störungen in der internationalen Zulieferkette gehen bei den meisten der befragten Unternehmen von direkten (35%) und indirekten (27%) Lieferanten aus. So kann eine Verknappung von Rohstoffen bereits weit vorne in der Zulieferkette eines Unternehmens zu einem Lieferengpass für die eigenen Produkte führen. Als dritthäufigste Ursache von Lieferkettenunterbrechungen wurden logistische Verzögerungen beim Transport (24%), am Zoll (24%) und in Häfen oder Zwischenlagern (19%) genannt. Eigene Produktionsbetriebe im Ausland wurden von 14% der befragten Unternehmen als Grund für Versorgungsengpässe angegeben.
Länder, in denen häufig Risiken bei der Beschaffung auftreten, sind gemäss den befragten Unternehmen die Türkei, Indien, Rumänien, China, die baltischen Staaten, Thailand und Grossbritannien. Die hohe Einstufung von Grossbritannien ist wohl auf den 2019 bevorstehenden BREXIT zurückzuführen.
Bezogen auf die Art der beschafften Vorleistungen sehen die Unternehmen die grössten Risiken bei Rohstoffen, elektronischen Bauteilen, Kaufteilen wie Getrieben, mechanischen Modulen, Leiterplatten, elektromechanischen Komponenten, Gussteilen und elektronischen Steuerungen. Die Risiken der Rohstoffe beruhen auf nicht vorauszusehenden hohen Preisschwankungen in Folge von Über- oder Unterkapazitäten auf den Weltmärkten. Die hohe Risikoeinschätzung elektronische Bauteile reflektiert die angespannte Situation auf den Beschaffungsmärkten. Seit Monaten steigt in allen Segmenten der Bedarf an Bauteilen. Distributoren von Halbleiterprodukten beispielsweise müssen gegenwärtig mit bis zu 56 Wochen Lieferzeit rechnen (Kuther 2018).
Die Folgen des Eintrittes von internationalen Beschaffungsrisiken sind hoch (Abbildung 2). Sie liegen vor allem in der Entstehung von zusätzlichen Kosten und Aufwendungen, wenn zum Beispiel eine Bestellung aufgrund einer Falschlieferung erneuert werden muss. Internationale Beschaffungsrisiken können aber auch die Kundenzufriedenheit gefährden, wenn Qualitätsmängel oder Lieferverzögerungen auftreten. Sie können die Kosten langfristig erhöhen, wenn Zölle angehoben werden und sie können das Image des Unternehmens verschlechtern, wenn Korruptionsfälle in der Zulieferkette auftreten (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Folgen des Eintrittes von Risiken der internationalen Beschaffung
Im zweiten Teil der Studie wurden die Unternehmen danach befragt, wie sie mit internationalen Beschaffungsrisiken umgehen. Dabei zeigte sich ein grosses Entwicklungspotential. Fast die Hälfte der Firmen gaben an, dass ihr Beschaffungsrisiko Management mangelhaft sei (vgl. Abbildung 3).
Am ausgeprägtesten gilt dies für die Risikoüberwachung und -kontrolle. Dieses Ergebnis erstaunt vor allem angesichts der Tatsache, dass grössere Schweizer Unternehmen gesetzlich verpflichtet sind, ein Risikomanagement zu betreiben (OR Artikel 727).
Um relevante Beschaffungsrisiken zu identifizieren machen die meisten Unternehmen Audits bei den ausländischen Lieferanten. Sie nutzen online verfügbare Informationen und Medienberichte, um Risiken in ausländischen Märkten einzuschätzen. Sie analysieren Berichte aus staatlichen Quellen wie dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO und sprechen mit anderen Firmen, die in den gleichen Märkten beschaffen. Als grösste Herausforderungen bei der Risikoidentifikation wurden die Analyse von Risikopotentialen bei den Sub-Lieferanten, die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Beschaffungsrisiken und der Zeitbedarf für die Risikoanalyse genannt. Schwer fällt den befragten Unternehmen zudem die Prognose des zeitlichen Eintreffens von Risiken. Zur Kontrolle von internationalen Beschaffungsrisiken vermeiden die Unternehmen Geschäftsbeziehungen in risikoreiche Länder, sie sichern die Versorgung durch Dual Source Strate-gien ab, halten Vorleistungen in Reserve, schliessen langfristige Lieferverträge mit Lieferanten ab, sichern die Zahlungskonditionen mit Incoterms, Haftpflicht- und Transportschäden mit Versicherungen ab. Selber getragen werden vor allem natürliche Risiken, Wechselkursrisiken und das Risiko eines Know-how Verlustes.
Abbildung 3: Qualität des Risikomanagements
Insgesamt zeigt die Befragung, dass beim internationalen Sourcing häufig Risiken auftreten, die externer Natur sind und bedeutende Schäden verursachen können. Ein systematisches Management solcher Risiken setzt die detaillierte Kenntnis der eigenen Zulieferkette, die Erhebung und Auswertung von aktuellen Marktinformationen und die vorbereitende Entwicklung von Massnahmen zur Risikobewältigung voraus. Die befragten Unternehmen können oder wollen aber häufig die dazu notwendigen Ressourcen nicht aufbringen und weisen ein mangelhaftes Risikomanagement auf. Der mangelnde Ressourceneinsatz ist ein klares Zeichen dafür, dass die Unternehmensleitungen die hohe Bedeutung des Risikomanagements noch zu wenig erkannt haben. Diese Einschätzung könnte auf die gesamtwirtschaftliche Realität sogar noch deutlicher zutreffen, da die kleinen Unternehmen mit beschränkten Managementressourcen in der Stichprobe der Studie stark untervertreten waren. Entsprechend wichtig scheint die Unterstützung von international tätigen Firmen durch die Entwicklung von ganzheitlichen Konzepten zum systematischen Management von internationalen Beschaffungsrisiken.